Genuss als bewusste Handlung: Was echtes Essen vom industriellen Unterschiedet
Die Freude am Essen beginnt nicht erst auf dem Teller. Sie beginnt beim Einkauf – etwa auf einem Markt, wo Gerüche und Farben die Sinne anregen, und setzt sich in der Zubereitung fort, die Aufmerksamkeit verlangt. Wer sich mit Lebensmitteln beschäftigt, entwickelt ein Verhältnis zu ihnen. Man weiß, woher sie kommen, kennt ihre Struktur, ihre saisonalen Eigenheiten. Das wirkt sich nicht nur auf den Genuss aus, sondern auch auf die Gesundheit. Studien deuten darauf hin, dass bewusstes, achtsames Essen zu besserer Verdauung, geringerer Energieaufnahme und stabilerem Sättigungsgefühl führt (Mason et al., 2016, https://doi.org/10.1016/j.ypmed.2016.11.013).
Dieser Zusammenhang bricht dort ab, wo Essen nicht mehr Lebensmittel, sondern Ware ist: industriell vorgefertigt, chemisch optimiert, in Plastik verpackt. Ein Großteil der heute konsumierten Nahrungsmittel besteht aus sogenannten «ultra-verarbeiteten Lebensmitteln» – Produkten, die aus einem Mix isolierter Nährstoffe (Zucker, Fett, Eiweiß) und künstlicher Aromen, Farb-, Konservierungs- und Texturstoffe zusammengesetzt sind. Die ursprünglichen Zutaten sind oft nicht mehr identifizierbar.
Zucker ist in fast allen verarbeiteten Produkten enthalten – auch dort, wo man ihn nicht vermutet: in Suppen, Brot, Salami, Fertigsaucen. Besonders hohe Mengen finden sich in industriell hergestellten Salatsaucen. Er dient nicht nur als Geschmacksverstärker, sondern verändert die neuronale Reaktion auf Nahrung. Die Kombination aus Zucker, Fett und Salz führt in vielen Fällen zu suchtähnlichem Essverhalten (Gearhardt et al., 2011, https://doi.org/10.1016/j.jad.2011.03.035). Diese Effekte werden von der Industrie nicht zufällig erzeugt – sie sind gewollt. Geschmack wird standardisiert, überreizt, künstlich aufgeladen. Natürliche Aromen – etwa in reifen Tomaten, Kräutern oder fermentierten Lebensmitteln – werden von Konsumenten zunehmend als «fad» empfunden. Die Geschmackswahrnehmung verkümmert, weil sie auf künstliche Reize trainiert wird.
Fette in industriellen Produkten stammen selten aus hochwertigen Ölen wie Olivenöl oder Butter. Stattdessen dominieren Palm-, Sonnenblumen- oder Sojaöl, oft stark raffiniert, billig produziert, geschmacklich neutral. In ihrer Kombination mit Zucker und Salz wirken sie sättigend, aber nicht nährend. Gleichzeitig werden Konservierungsstoffe und Emulgatoren eingesetzt, die die Darmflora nachweislich verändern können (Chassaing et al., 2015, https://doi.org/10.1038/nature14232).
Die gesundheitlichen Folgen sind massiv: Der hohe Konsum industriell gefertigter Nahrung mit übermäßigem Zucker-, Fett- und Salzgehalt trägt wesentlich zur Entwicklung chronischer Krankheiten bei. Dazu zählen insbesondere Adipositas, Typ-2-Diabetes, arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheiten, nicht-alkoholische Fettlebererkrankung (NAFLD), bestimmte Krebsarten sowie muskuloskelettale Erkrankungen. Auch neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer stehen mit dauerhaft erhöhtem Insulinspiegel und chronischer Entzündung im Zusammenhang (Kalyani et al., 2017, https://doi.org/10.1016/j.jamda.2016.12.090).
Zusätzlich treten psychische und soziale Belastungen auf. Studien belegen, dass ungesunde Ernährung mit höherem Risiko für Depressionen, Angststörungen und verringerte kognitive Leistungsfähigkeit assoziiert ist (Lassale et al., 2019, https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2019.1537).
Die wirtschaftlichen Kosten dieser Entwicklung sind erheblich: Laut OECD entstehen durch ernährungsbedingte chronische Krankheiten jährliche Kosten in Milliardenhöhe – durch medizinische Versorgung, Produktivitätsverluste und Frühverrentung.
Der Verlust kulturell verankerter Essrituale hat zudem weitreichende soziale Folgen. Gemeinsames Essen wird zunehmend durch Individualverzehr ersetzt. Untersuchungen zeigen, dass gemeinsames Kochen und Essen mit sozialem Zusammenhalt, psychischer Gesundheit und subjektivem Wohlbefinden korrelieren (Hammons & Fiese, 2011, https://doi.org/10.1016/j.jneb.2011.04.003). Der Rückgang solcher gemeinschaftsstiftenden Praktiken fördert Einsamkeit, soziale Isolation und Vereinsamung im Alter.
Die Folge ist ein Teufelskreis: Durch permanent überstimulierte Geschmacksknospen wird echtes, unverarbeitetes Essen als unbefriedigend erlebt. Das führt zu immer höherem Konsum künstlicher Produkte – mit negativen Auswirkungen auf Körpergewicht, Stoffwechsel, Mikrobiom und langfristige Gesundheit.
Dem gegenüber steht eine Ernährung mit handwerklich erzeugten, natürlichen Lebensmitteln. Wer Brot beim Bäcker kauft, Käse vom Hofladen, Gemüse aus der Region und es selbst verarbeitet, entwickelt nicht nur eine stabilere Essstruktur, sondern auch ein anderes Körpergefühl. Die langsame Zubereitung, das Riechen, Schmecken, Kauen – all das aktiviert kognitive und physiologische Prozesse, die mit Stressreduktion, Sättigung und metabolischer Balance in Verbindung gebracht werden (Robinson et al., 2013, https://doi.org/10.1016/j.appet.2013.01.013).
Diese Form des Essens kann auch in der modernen Welt existieren. Sie verlangt keine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern oder Lebensweisen, sondern lediglich ein anderes Verständnis von Qualität, Aufmerksamkeit und Selbstwirksamkeit. In der Küche beginnt Selbstbestimmung.
Wein und Esskultur: Regionen des gelebten Genusses
In zahlreichen europäischen Regionen ist Wein nicht nur ein Getränk, sondern integraler Bestandteil einer über Generationen gewachsenen Esskultur. In Südwestfrankreich, im Piemont oder in den Abruzzen ist das gemeinsame Essen häufig Anlass für soziale Begegnung. Wein wird in diesen Kontexten nicht als Rauschmittel konsumiert, sondern begleitet – in moderaten Mengen – ein handwerklich zubereitetes, regional verankertes Mahl.
Im Piemont sind Trüffelgerichte, Polenta und Schmorgerichte wie Brasato al Barolo mit lokalen Weinen wie Nebbiolo oder Barbera verbunden. In den Abruzzen ist es der Montepulciano d’Abruzzo, der zu Lamm, Pecorino oder hausgemachter Pasta serviert wird. Hier wird gekocht, eingemacht, gebacken – nicht aus Nostalgie, sondern aus Kompetenz und Alltagspraxis.
Auch in Spanien ist der Wein fest in den Rhythmus des Essens eingebunden: Ein einfacher Tempranillo zur Tortilla, ein Verdejo zu Fisch oder ein reifer Garnacha zum Cochinillo asado. In Katalonien, La Rioja oder Kastilien ist die Verbindung zwischen Essen und Wein ebenso alltagsprägend wie in Südfrankreich, wo in der Provence und im Languedoc Märkte, Kooperativen und Winzerfamilien zentrale Orte der Alltagskultur sind.
Diese Kulturen zeichnen sich durch ein Zusammenspiel von landwirtschaftlicher Produktion, handwerklicher Verarbeitung und kollektiver Esspraxis aus. Sie stiften Identität und Resilienz – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die Reduktion des Essens auf funktionale Kalorienzufuhr hingegen ist Ausdruck eines kulturellen Verlusts: Sie entkoppelt den Menschen von seiner Umgebung, von der Jahreszeit, vom Mitmenschen.
Studien zeigen, dass ritualisierte Mahlzeiten, insbesondere mit vertrauten Personen, das Risiko für depressive Erkrankungen senken und das subjektive Wohlbefinden erhöhen (Fiese et al., 2006, https://doi.org/10.1111/j.1741-3737.2006.00393.x). Der Rückgang solcher Strukturen trägt zu Vereinsamung, Stress und sozialer Entfremdung bei.
In den genannten Regionen ist diese Verbindung noch intakt – auch, weil sie ökonomisch und politisch gefördert wird. Slow Food-Bewegungen, lokale Märkte, geschützte Herkunftsbezeichnungen und regionale Ausbildungsgänge für Lebensmittelhandwerk und Weinbau stützen eine Praxis, die andernorts bereits marginalisiert ist.
Wein ist in diesen Kontexten nicht Ursache gesundheitlicher Probleme, sondern Teil eines kulturellen Systems, in dem Mäßigung, Qualität und sozialer Zusammenhang im Vordergrund stehen.
Thomas Henke schreibt seit über 20 Jahren im weinraum über Wein, Winzer, Regionen und den Genuß von Wein.
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