Schwefel, Sauvignon und sensorische Spannung – Thiole im Wein
Thiole sind eine von mehreren Gruppen aromatisch wirksamer Substanzen im Wein – neben Terpenen, Norisoprenoiden, Estern, Phenolen, Lactonen oder Pyrazinen. Diese Gruppen prägen je nach Rebsorte und Ausbau ganz unterschiedliche Stilistiken.
Sie riechen im Wein nach Maracuja, Grapefruit oder auch nach Buchsbaum und manchmal sogar nach Katzenurin. Was in der Alltagssprache bestenfalls irritiert, beschreibt in der Weinwelt eine hochsensible Gruppe schwefelhaltiger Verbindungen: die Thiole. Sie sind hauptverantwortlich für den fruchtbetonten Duft vieler Weißweine, insbesondere aus Sauvignon Blanc, Colombard oder Verdejo. Entstanden nicht etwa im Saft der Trauben, sondern als Folge mikrobieller Prozesse im Gärverlauf – ein aromatisches Produkt chemischer Umwandlung und agronomischer Weichenstellungen. Die Weinaromen im Überlick.
Was sind Thiole – und warum riechen sie so stark?
Thiole (früher auch Mercaptane genannt) sind organische Verbindungen, die eine -SH-Gruppe enthalten – chemisch betrachtet eng verwandt mit Alkoholen, aber mit Schwefel statt Sauerstoff. Schon in Konzentrationen von wenigen Nanogramm pro Liter sind sie für den Menschen deutlich wahrnehmbar. Entscheidend ist dabei nicht nur die Menge, sondern auch die Struktur der Verbindung. Die wichtigste Unterscheidung: fruchtige Thiole – etwa 3MH (Grapefruit, Maracuja) oder 4MMP (Buchsbaum, Cassis) – und reduktiv riechende Thiole, die nach Gummi, Kohl oder faulen Eiern duften.
Vom Vorläufer zur Wahrnehmung: Gärung, Hefe und Laubarbeit
Thiole entstehen nicht direkt in der Beere, sondern aus geruchlosen Vorstufen, die vor allem in der Schale vorkommen und an Aminosäuren wie Cystein gebunden sind. Die Umwandlung erfolgt durch Enzyme der Hefe bei der Gärung. Der Gehalt an Vorstufen wiederum wird beeinflusst durch:
- Laubarbeit (mehr Licht = mehr Vorstufen in der Beere)
- Stickstoffverfügbarkeit im Boden
- Reifegrad der Trauben bei der Lese
In der Kellerarbeit entscheiden Hefewahl, Sauerstoffmanagement und Gärtemperatur über das tatsächliche Entstehen und die Erhaltung der Thiole. Künstlich selektionierte Hefestämme ermöglichen gezieltere Steuerung – in Weinen mit Spontangärung bleibt der Verlauf unvorhersehbarer, mitunter aber auch nuancierter.
Thiolische Weine aus dem Bordelais
Im Süden von Bordeaux entstehen auf Kies-, Lehm- und Kalkböden zahlreiche Weißweine, die auf frische, fruchtige Thiol-Aromen setzen. Château Les Clauzots in den Graves zeigt mit seinem Sauvignon Blanc regelmäßig Noten von Stachelbeere, Grapefruit und feinem Limettenöl – typisch 3MH-dominiert. Die Böden dort – stark durchlässige Graves mit sandigem Lehm – sorgen für langsame Reife und intensive Sonnenausbeute, was die Bildung der Vorstufen unterstützt.
Etwas weiter nördlich erzeugt Château Vignol in der Appellation Entre-deux-Mers Sauvignon-Blanc-Weine mit dominanten tropischen Aromen (3MH, 3MHA) und leichter Cassisnote (4MMP), oft ergänzt durch Sémillon, der Volumen bringt, ohne die Thiole zu überdecken.
Etwas weiter nördlich erzeugt Château Vignol in der Appellation Entre-deux-Mers Sauvignon-Blanc-Weine mit dominanten tropischen Aromen (3MH, 3MHA) und leichter Cassisnote (4MMP), oft ergänzt durch Sémillon, der Volumen bringt, ohne die Thiole zu überdecken.
Auch Château Thieuley erzeugt Weine, die gereifte und dichte Thiolaromen entfalten. Mit ihrer frühen Einführung der Kaltmazeration (ab 1986) hat Francis Courselle Bedingungen geschaffen, unter denen Vorstufen vor der Gärung optimal extrahiert werden. Das Ergebnis: Sauvignon Blanc mit kontrollierter Frucht, floralen Noten und subtilen Reduktionstönen, die sich mit der Reife entwickeln.
Von der Loire: Sancerre und Menetou-Salon
Aromen, die auf eine spürbare Konzentration an Thiol deuten werden an der Loire und hier besonders in Sancerre und Menetou-Salon erzeugt. Die Domaine Pellé arbeitet in beiden Appellationen mit einer Kombination aus Lehm-Kalk-, Mergel- und Silexböden. Diese geologischen Unterschiede prägen nicht nur die Säurestruktur, sondern auch die Konzentration und Qualität thiolischer Vorstufen. In kühleren Jahren treten 4MMP und 3MH besonders deutlich hervor – mit Noten von Holunder, Cassis, Pampelmuse und dem für Sancerre typischen Hauch von Feuerstein.
Bemerkenswert: Während viele Sauvignon-Blanc-Weine aus Übersee durch technische Verfahren auf intensive Thiolaromen getrimmt werden, setzen Winzer wie Paul-Henry Pellé auf spontane Gärung, natürliche Hefevielfalt und minimale Eingriffe. Die Aromen sind dadurch oft subtiler, differenzierter, komplexer – mit deutlich geringerer Haltbarkeit, aber größerem aromatischem Spannungsfeld.
Sensorische Wirkung und zeitlicher Verlauf
Thiole sind flüchtig und chemisch instabil. Innerhalb von 12 bis 24 Monaten nach Abfüllung verlieren viele Sauvignon Blancs ihre fruchtige Prägung durch Oxidation oder interne Reaktionen. In reduktiv geführten Weinen kann das zu unerwünschten schwefligen Noten führen, in oxidativeren Stilen hingegen zu gereiften Nuancen, die an getrocknete Früchte, Harz oder Kräuter erinnern. Winzer entscheiden daher bewusst, wie lange ein Wein lagerfähig sein soll – und wie stark das Aromaprofil sich verändern darf.
Thiole verstehen heißt: Wein verstehen
Ob frischer Sancerre, mineralischer Sauvignon aus den Graves oder tropisch-fruchtiger Entre-deux-Mers: Die Aromen der Thiole sind keine Laune der Natur, sondern Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses aus Botanik, Mikrobiologie und Handwerk. Sie stehen exemplarisch für die Komplexität, die selbst in einem Glas einfach erscheinenden Weißweins steckt – und laden dazu ein, genauer hinzuriechen, länger zu schmecken und ein wenig mehr zu verstehen.