Die Lust des Leidenschaftlosen

Es fallen keine gebratenen Tauben vom Himmel. Nur solche ohne Leidenschaft.

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Die Lust des Leidenschaftlosen

Vom Wirken ohne Widerstand

1781 veröffentlichte Kant nach über zehn Jahren des Arbeitens seine «Kritik der reinen Vernunft». 

Das Werk hat damals niemand verstanden, allein den Titel versteht Kant als: «Überprüfung der Möglichkeiten der Erkenntnisfindung ohne Verwendung der Erfahrung und Beschränkung der Erkenntnis auf das ihr Zugängliche.»

Es hat viele Jahre gedauert, bis Philosophen den Widerstand des Werkes überwunden hatten, neu sortierten und seinen Inhalt als eines der bedeutendsten Werke der Philosophie erkannten.

Ein heute unvorstellbarer Vorgang. Inhalte, die die Länge eines «Tweed» oder «Post» überschreiten, überfordern einen immer größeren Anteil der Menschen. Je mehr elektronische Medien konsumiert werden, umso stärker ist die Abnahme der Aufnahmefähigkeit.

War das Werk von Kant auch unverständlich, stammt doch ein wunderbares Gleichnis aus seinem Beginn, das den Traum des widerstandslosen Seins beschreibt:

Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.

Wir wissen, was wäre, fiele der Widerstand weg: Die Traube fiele vom Himmel.

Und doch wurde der Traum wahr: Der Widerstand fiel weg

Zu Zeiten, als Werbung entweder in Anzeigen erschien oder die Werbezeit vor der «Tagesschau» erkauft werden musste, bestand ein Muffigkeit erzeugendes Einverständnis aller Beteiligten: Das Abendprogramm im Fernsehen musste allen gefallen. So liefen Formate wie «Der Alte» usw. Jahrzehnte praktisch variationsfrei.

Auch dies heute unvorstellbar. Ein Instagram, TikTok etc. account kosten nichts, ein Telefon, um Photos oder Videos zu erstellen, so gut wie nichts und die Anforderungen, um dort zu posten sind: null.

Hiermit sind keine oft sehr nützlichen Erklärvideos von Fachleuten gemeint, sondern Werbung von «influencern» - also Leute mit hoher Reichweite, die Zeug verkaufen, das einem auf einer einsamen Insel keinen weiteren Tag Leben schenken würde.

Der große nützliche Teil des Internets, der tiefschürfende Informationen in wenigen Klicks bereithält, für die früher lange Recherchen erforderlich waren, schädigt niemanden.

Problematisch ist der Ersatz der kleinen Bildschirme für das reale Leben, für die Interaktion mit einem realen Gegenüber

Aufmerksamkeit: die neue Währung

Zwar kann man eine beliebige Menge belanglosen Unsinns als Video hochladen, doch es soll Geld damit verdient werden, und zwar viel. Dazu müssen viele die Videos anklicken und die präsentierten Waren kaufen.

Taube am Brunnen an der Rhône

Taube am Brunnen an der Rhône, einer der großen Weinregionen. Die Weine entstehen, weil Winzer sich mit Leidenschaft ihrem Wein widmen.

Hier begegnen sich gewissermaßen zwei Tauben in der Luft, die den Widerstand überwunden haben. Die, die ohne groß etwas zu können, die sozialen Medien füllen und jene, die ohne sich groß Mühe zu geben selbige konsumieren.

Der Fall der Widerstandslosen

Den Fall der beiden Tauben erleben wir gerade in zwei verschiedenen, jeweils sehr unschönen Landungen.

Die krank machenden Folgen einfacher Kommunikation

Das menschliche Miteinander erfordert Auseinandersetzung: Dem Gegenüber wohnen Grenzen, Ansichten inne, die den eigenen in manchen Bereichen gleichen, in anderen widersprechen. Das Glück, eines anderen Freund zu sein ist kein Götterfunke, es entsteht aus einem Widerstand.

Ein solches Glück schüttet Dopamin aus, wie beim Essen und anderen lustvollen Tätigkeiten. Lustloses digitales «liken», die Flut von Emjois, bieten spontanes Glück: sei wie die anderen in unserer Gruppe und du gehörst zu uns.

Die viel Konsumierenden (hier stimmt das Gerundium einmal) der sozialen Medien zeigen regelrechte Krankheitsbilder. Zum einen Sucht, die eine permanent verfügbare Dopaminquelle entwickelt, zum anderen ein starker Abfall der Leistungsfähigkeit. 

Kognitive Folgen der widerstandsfreien Reizbefriedigung

Die Nutzung dieser stets verfügbaren und widerstandslos nutzbaren Quelle digitaler Streicheleinheiten korreliert mit einer stark reduzierten Aufmerksamkeit, Lesefähigkeit, Empathie und Selbstregulationsfähigkeit und entsprechend gestiegenen depressiven Symptomen und Schlafstörungen.

Die Tauben, Sie wissen noch?

Soziale Folgen der widerstandslosen Aufmerksamkeit

Um eine herausragende Aufmerksamkeit (und damit Geld) zu bekommen, sind die Anforderungen im realen Leben extrem geworden. In den 60er Jahren sahen Skirennen aus wie heute der Anfängerkurs an Idiotenhügel. Ein dreijähriger Pianist tritt mit einem Orchester auf, ist aber eigentlich Sportler usw. Hier wurden erhebliche Widerstände überwunden, eine extreme Fokussierung war nötig.

Handarbeit für einen Pizzateig

Handarbeit für einen Pizzateig.

Anders, wenn Produkte beworben werden, die versprechen, dem Widerstand ein Schnippchen zu schlagen. Supervital food in fünf Minuten, der tägliche workout ohne Anstrengung und natürlich Ratgeber für ein glückliches Leben.

Um sich in der Flut von Angeboten durchzusetzen, setzen Inhalte immer extremere Reize. Reichten vor einigen Jahren noch Katzenvideos oder Kochrezepte, müssen es jetzt starke emotionale Übertreibung, visuelle Reizüberflutung, inszenierte Empörung oder demonstrative Verletzlichkeit sein.

Kochen ist auch Gesellschaft

Kochen ist ein sinnliches und sinnvolles Tun. Warum sollte man es «schnell, einfach, ohne» hinter sich bringen wollen?

Die Erschaffer dieser Inhalte haben einen starken Zugang zu den Empfängern. Oder anders ausgedrückt, ihre präsentierte Dramatik wird für voll genommen und löst in den Empfängern emotionale Resonanz aus. Sie leiden mit, sie verzichten mit und kleiden sich so, wie vorgelebt.

Durch diese Resonanz entstehen bei ausreichender Wiederholung Kulturphänomene. War es vor einigen Jahren der Fitnesstrend, dann zunächst vegetarische, später die vegane Ernährung, derzeit der Verzicht auf Alkohol, gerade aufkeimend die Ablehnung von Beziehung (mit Männern) und Sexualität – medial inszeniert als Realität. Bei Grillwetter an der Fleischtheke sind die Realitäten zu bewundern. 

Die starke Diskrepanz von medial als real empfundenen Maßstäben und der Wirklichkeit des Alltäglichen äußert sich in dem hohen Bedarf therapeutischer Hilfe, schon und besonders an Schulen. 

Die Produkte des Leidenschaftslosen

Sicher war es witzig, Kaffee im Pappbecher an der Straßenecke anzubieten, um energischen Zeitgenossen mit hochgeklapptem Mantelkragen auf dem Weg zum Kampf um Glanz und Gloria den fehlenden Schlaf auszutreiben.

Richtiger Kaffee aus dem Filter

Ist es ausreichend vielen Leuten egal, was aus der Papiertüte ragt, die man als «bagle» zum coffee 2 go bekommt, ist das Ende der Entwicklung, dass es weder Röster gibt, die richtigen Kaffee erzeugen noch Bäcker, die mehr Inventar haben als den Aufbackofen.

2011 importierte Deutschland 130.000 Tonnen vorgebackenes Brot, 2024 waren es 429.000, davon ein beträchtlicher Teil aus China.

Es schwinden die Sinne

Mit den beispielhaften Bäckereien verschwindet das Wissen um die Aromen eines frischen Brotes, Brötchens, gebacken aus Mehl, Hefe, Wasser und Salz gleich mit.

Brot

Handwerwkliches Brot hat mit aufgebackenem Brot nur den Namen gemein.

Einerlei ebenso, woher das Essen genau stammt, der Wein, das Bier, die Kleidung. Bio soll es schon sein. Vegan und alkoholfrei. Zertifiziert. 

Wer mitmacht, erscheint in den «10 Spots, die man in Mailand erlebt haben muss.», «fit für den Tag, 10Tipps, die wirklich schnell gehen». Mit Link zum Buch. Bei amazon. Klick auf den Link in der Beschreibung und du unterstützt meinen Kanal. Das hilft mir wahnsinnig und wäre echt super.

Am Ende hat man alles verstanden, aber nichts begriffen. Wie frisches Brot schmeckt, bleibt im Verborgenen.

Es schwinden Kultur, Können

Mit dem Wissen um die Aromen schwinden natürlich die Produzenten, die solche zu erzeugen vermögen. Handwerker auf dem Feld, im Stall, im Weinberg und letztlich in der Küche.

Luft unter den Flügeln der Aromen

Wie groß ist der Widerstand, den es erfordert, den Weg zu einem richtigen Bäcker zu gehen, ein Essen zu machen oder eines zu finden, das nicht aus industriell vorgefertigten Waren erzeugt wurde? Lächerlich gering im Verhältnis zum Gewinn.

Geschmack ist kinderleicht. Junge mit Knethaken.

Guter Geschmack ist kinderleicht. Weil Kinder neugierig sind.

Wie beim ersten Radfahren: Das Schwierigste war, einfach loszufahren. Und nicht zuhören, wenn der Rat ist, etwas «einfach, schnell, ohne» zu schaffen. Es kommt nur Mist dabei heraus.

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